Donnerstag, 12. März 2009

Kurzgeschichten

12.3.09, Kolkata, 17.00

Leia ist ein wenig uebermuetig geworden und nachdem die ersten paar Tage hoechstens ein leises Rascheln, ein Huschen und manchmal ein Schatten hinter der Lampe von ihrer Existenz gekuendigt hat sitzt sie nun auf meinem Schreibtisch. Ihr Bruder haengt noch ein wenig misstrauisch an der Wand ueber der Tuer, dunkelgruen auf strahlendem Rosa.
Ich habe zwei Mitbewohner, die sich wohl so langsam an den ungewoehnlichen Menschen gewoehnen und als ich mich wieder meinem Projekt zuwende, sind vier Geckoaugen aufmerksam auf mich gerichtet ... es ist Zeit fuer einige unsortierte Geschichten aus der Stadt in die es mich versclagen hat.
"Oh Calcutta, in this hall of thine, may I have a corner seat..."

Mein Tag hat schon früh begonnen. Von akuter Schlaflosigkeit gepackt spaziere ich schon um 6.00 morgens durch den Frühnebel-verhangenen, noch taufrischen "Rabindra Sarobar", einen kleiner Park um einen See im Süden Kolkatas.
Zuerst ist es nur ein weiteres Flüstern in der erwachenden Stadt, kaum bemerkenswert, dann aber, je näher ich dem Ufer komme, wird es lauter, selbstsicherer, gegenwärtiger. Ein Kichern, bauchiges Lachen, klangvolles Schmunzeln.
Am Ufer des Sees, unter den alten, gekrümmten Bäumen stehen überall Menschen, einige alleine, viele in kleinen Gruppen und strecken und dehnen sich und ... Lachen aus tiefster Kehle. Ich stehe ein bischen abseits und mustere neugierig dieses uralte Ritual, diesen neumodischen Trend oder doch eher ein waghalsiger Exorzismus des kriselnden Zeitgeists?
Irgendwann winkt mich einer der Lachenden heran und macht eine Geste, dass ich mitlachen soll und ich, erst ein wenig schüchtern mit meinem befangenen Zivilisationslächeln, brauche ein paar Versuche, aber irgendwann lache ich aus vollem Hals mit; ein tiefes, dunkles, befreites Lachen, das sein 100 faches Echo in einem gewöhnlichen indischen Morgen findet. Wer auch immer gesagt hat "you can´t just bottle some laughter for the rest of your days" (war es Donovan?), hatte eindeutig unrecht. (Qed)

Es ist später Nachmittag, gestern bin ich hier angekommen und heute streune ich zum ersten mal durch die breiten, überfüllten Straßen Kolkatas.
Die Stadt ist widersprüchlicher als alle Städte die ich bis jetzt erlebt habe, die Gerüche noch intensiver, es ist lauter und hecktischer und zur gleichen Zeit in sich ruhend und still. Die Menschen sind freundlich und stolz und vor den alten, verfallenden Kolonialbauten reiht sich ein Marktstand an den nächsten.
Die einzige Schwierigkeit besteht darin sich nicht zu verlaufen, die Stadtverwaltung ändert nämlich mit boshafter Regelmäßigkeit die Straßennamen, sodaß weder Stadtpläne, noch Straßenschilder, noch Adressen mit der Aktualisierung vorankommen. So gibt es z.B. drei verschiedene "Mahatma Gandhi Roads" dicht beieinander, die alle noch drei Alternativnamen haben, welche natürlich alle noch in Gebrauch sind. Die "Park Street" heißt im Moment offiziell "Mother Theresa Sarani", leider hält sich niemand daran und das amerikanische Konsulat liegt seit kurzem in der "Ho Chi Min Sarani".
Mitten in dieser ersten Orientierungslosigkeit esse ich die besten Momos von Kalkutta an einem der vielen Straßenstände, die leider alle nicht zu unterscheiden sind. Ich werde die nächsten Tage Stunden damit verbringen diesen Stand wiederzufinden, esse jeden Tag mindestens einmal Momos, die sicherlich gut aber nicht sooo gut sind, doch er bleibt nur eine Erinnerung.

Ich habe die Linien Rickschas entdeckt. Das sind Rickschas die eine bestimmte Strecke auf und abfahren und auf die man, mit etwas Übung, einfach aufspringen kann. Eine Strecke kostet 4Rs, also fast nichts und ich brauche 2 Strecken vom Krankenhaustor bis ins Stadtzentrum, das plötzlich ganz nahe ist...
Und ja, 8 Personen passen ohne Probleme in eine Rickscha, erst ab 10 wird's ungemütlich.

Ich spaziere durch den Maidan, den Centralpark Kolkatas. 1758, um dem neugebauten "Fort William" eine freie Schusslinie zu sichern, wurde ein 3km langer Streifen im Zentrum der Stadt von den englischen Kolonialmächten, dem Erdboden gleich gemacht und zum Park umfunktioniert.
Heute ist "the Maidan" die grüne Lunge der Stadt und gleichzeitig Rückzugsort für alle die dem alltäglichen Chaos für ein paar ruhige Momente entfliehen wollen.
Um für Ordnung zu sorgen, hat die Stadtverwaltung große Parzellen zur Patenschaft ausgeschrieben und große Firmen kümmern sich nun um die Erhaltung einzelner Bereiche des Parks. Daß dabei ein Wettkampf zwischen den einzelnen Firmen um den schönsten Parkabschnitt ausgebrochen ist, führt zu teils schönen, teils kuriosen Gartenanlagen. So gibt es im "Tata Steel Park" akkurat geschnittenen Rasen, mit Mamor ausgelegte Gehwege und den quasi-orginalgetreuen Nachbau des Trevibrunnens, der Nachbarpark punktet mit einer ganzen Schule "Maidan Delfinen" aus Plastik, die aus dem Rasen auftauchen und zu klssischer Musik ihre Kreise ziehen, wieder einen Park weiter gibt es romantische Wasserspiele, die abends in allen Farben zwischen Pink und Neon erstrahlen.

Es ist früher Abend und auf der kleinen Terasse meines Bereitschaftszimmers höre ich Musik auf dem I-Pod. Neben mir das vertraute Rauschen und Piepsen der Station und Jens Lekman singt: "If a psycologists psycologist ever needs a psycologist, who would want to be a psycologists psycologists psycologist"
...großartig.

Ich habe einen kurzen Anflug von Heimweh, den ich im Pizza Hut kurriere. Verglichen mit den ca. 12Rs die mich normalerweise ein Essen auf der Straße in Kolkata kostet (z.B. Momos) sind die 300Rs (ca 5€) für ein Pizza Hut Menue mit Pizza, Softdrink und Dessert der reinste Luxus. Dementsprechend sieht das Restaurant auch aus, Holzvertäfelung, eine Klimaanlage auf Anschlag, für jeden Gast ein Kellner der einem zu Platz geleitet und den Stuhl zurechtrückt, Porzellangeschirr und weiße Stoffservieten und darauf eine ordinäre Pizza Hut Pizza.
Am Tisch neben mir feiert ein junges Mädchen Kindergeburtstag, sie hat eine kleine Krone auf, vor ihr stapeln sich die Geschenke und am Tisch sitzen neben ihren Eltern noch 10 wild durcheinander quatschende Freundinnen. Als ich das Restaurant verlasse sortiert ein Mädchen im gleichen Alter, das Gesicht mit Schweiss und Dreck verkrustet den Müll auf der Straße.

Ich besuche die University of Kolkata, das Medical College und die College Street. College Street ist berühmt für die vielen Bookshops, die die Straße auf mehreren Kilometern säumen.
Dabei handelt es sich aber nicht um Geschäfte im eigentlichen Sinn, mit Regalen und erkennbarer Ordnung, vielmehr gibt es hier im besten Fall Marktstände, ansonsten werden die Bücher, Deckel an Deckel, auf der Straße gestapelt; davor im Schneidersitz der Buchverkäufer, der verspricht einem jedes Buch, das man will innerhalb von 10min besorgen zu können. Ich erkenne in einem Stapel die neuste Ausgabe des "Harrison - Internal Medicine", direckt darüber ein dickes Buch über Quantenmechanik und darüber Bücher zu angwewandter Systemtheorie bis Politik und Bankenwesen. Eine beeindruckende Sammlung an Wissen der ganzen Welt, auf Englisch, Arabisch, Hindi, das hier wie Gemüse auf der Straße verkauft wird und genauso hungrig macht, steigt einem der Duft so konzentriert in die Nase.

Ich stehe im OP und habe zwei wichtige Erkenntnisse:
1. Eine TAR geht wunderbar auch ohne Stapler
2. Die Tatsache, daß ich ca. 20 neue Moskitostiche habe und mich nicht kratzen darf weil ich steril bin, stellt meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe... 5 lange Stunden.

Ich bin mit Dr. Agrawalla und seiner Familie zum Auftakt des Holi Fests zu einer alten Hindu Zeremonie eingeladen. Der Legende nach wurde vor Urzeiten einem Dämon prophezeit, daß eine einfache Frau ein Kind zur Welt bringen wird, das ihn, als erwachsener Mann, vernichten wird.
Also machte sich der Dämon auf die Suche nach der Frau, gewinnt ihr Vertrauen und raubt schließlich das neugeborene Kind. Als er es jedoch auf einem Scheiterhaufen verbrennen will, schreiten die Götter ein und retten das Kind aus den lodernden Flammen und bringen es ins Dorf zu seiner Mutter zurück, worauf diese aus Freude das erste Holi feiert.
Dies wird nun kurz vor Mitternacht auf einem sternenbewachten Feld nachgespielt. Auf dem Scheiterhaufen liegt eine Tonpuppe und ein Priester mit Dämonenmaske entzündet das Feuer. In diesem Moment müssen mutige Zuschauer auf den Scheiterhaufen klettern und das "Kind" retten, eine gefährliche Mutprobe. Doch heute explodiert das Feuer geradezu, das trockene Holz geht in einem Funkensturm auf bevor auch nur ein Versuch möglich ist das "Kind" zu retten und es verbrennt innerhalb von Sekunden. Erst als die Flammen keine Nahrung mehr finden holt der Priester die rußschwarze Tonpuppe mit einem langen Stock aus der Asche. "This happens, some years the demon wins"
Das eigentliche Holi am nächsten Tag ist wesentlich farbenfroher. Bewaffnet mit Farbe zieht man von Haus zu Haus und malt jeden an, der einem begegnet. Diese Geste soll jedem die Gelegenheit geben sich für alle Gemeinheiten des letzten Jahres rächen zu können, gleichzeitig aber Vergebung anzubieten
Und während ich mich langsam pink einfärbe, lachend, nichts ahnend, erschießt zuhause im fernen Deutschland ein 17 jähriger Junge 19 Menschen.

Ich stromere durch die Gassen im Süden, es ist schon fast Mitternacht und schon lange dunkel, doch das Leben pulsiert hier immer noch, jetzt da es angenehm kühl ist, vor den Häusern. Frauen stehen in kleinen Grüppchen zusammen und lachen leise in die Nacht, Kinder spielen Fußball mit einer alten Wasserflasche oder fangen oder Verstecken, die geduckte Gestalt eines kleinen Jungen schält sich aus der Dunkelheit hinter einem Kleinen Shiva Schrein. Ein paar Männer spielen ein Brettspiel, das nach Dame aussieht aber anders gespielt wird, mit im Schwung geworfenen Spielsteinen, und rauchen. Die Luft ist schwer und würzig, die Straßen oft nur erhellt von den Kerzen der Händler, die am Straßenrand ihre Ware anbieten, manchmal das Flackern einer Öllampe hinter einem Fenster, sonst nur das fahle Mondlicht. Ich kaufe mir eine Kathiroll, eine Art gefüllter Pfannkuchen auf dem ein Ei aufgeschlagen und angebraten wird und danach einen Chai und eine einzelne Zigarette. Als Anzünder dient ein in Öl getränktes Seil, das an einem Ast hängt und langsam vor sich hinschmort. Der Verkäufer betrachtet mich, halbblind und mit zugekniffenen Augen interessiert über den Rand seiner riesigen Brille. Einer der Bügel ist abgebrochen, dafür hält jetzt ein Gummiband die Brille auf seinem Kopf, sein Hemd war sicherlich irgendwann einmal weiß und seine Finger sind spindeldürr und krumm. Als ich mich freundlich verabschiede, lächelt er mich mit seinen verbliebenen drei Zähnen an und winkt mir hinterher.
Ein paar Gassen weiter hält mich ein Junge auf, ich kenne ihn, er hat in meinem Hostel gearbeitet und auch er erkennt mich wieder. Er hat gerade "Icecream, Icecream" gekauft und ist auf dem Weg nach Hause. "This is my home. Meet my father, meet my mother, meet my brother"
Die ganze Familie steht lächelnd vor der einfachen Hütte, die ,mit dem einem kleinen Raum, dem Kohleofen und den fünf Betten, doch so sehr nach glücklichem Zuhause aussieht.
Ich werde prompt zum "Icecream, Icecream" essen eingeladen, doch ich mache eine Geste daß mein Bauch voll ist, bedanke mich mehrmals und lehne ab. Ich weiß, daß die "Icecream, Icecream" wahrscheinlich mehr gekostet hat, als die Familie am Tag verdient. Diese Großzügigkeit gegenüber einem Fremden ist hier nicht ungewöhnlich, trotzdem bin ich jedesmal wieder tief berührt.

Ich habe den wahrscheinlich einzigen Irish Pub in Indien gefunden. Zum Bier gibt es mit Zimt und Kardamon gewürztes Knabberzeug und die Band spielt gerade ein holpriges "nothing else matters". Der Bassist trägt einen Turban.

...to be continued

2 Kommentare:

  1. "Mein Kolkata"? – by Carsten "Auster" Thorn...?

    LG JO

    ps. wann bist du eigentlich wieder im Lande?

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  2. Kürzere Geschichten aus der Heimat:
    Sonntag,15.03.09 , 10.00 Uhr

    2.Frühstück mit Milchkaffee, bzw.
    Tee für Papa (Darjeeling natürlich) und im Hintergrund: "But where do you go ....?", Du weisst schon: ...Darjeeling Limited...!
    Anmerkung: Kommentar von heute früh bei 1.Frühstück falsch plaziert!-nachzulesen unter:
    "Langeweile - Nr 6" ,war wohl doch noch unausgeschlafen!
    Tagesplanung heute: Relax and look out at
    the view or go out and be part of it,was bedeutet, über den Altenberg am Kloster vorbei durch den Kurpark hinein zu Pola, den wir von Dir schön grüssen werden...
    Soo schön ist reines Wohlbehagen!
    Auch Dir einen erbaulichen Sonntag und weiterhin viele spirituelle Erfahrungen!
    PS:
    wenn ich Deine Reiseerfahrungen lese,muß ich
    immer an die Worte von Herrn Dr.Dronske denken!
    Ma und Pa und Parker, der sich wieder eingefunden hat.

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