Mittwoch, 1. April 2009

... der letzte Eintrag

Das "Book of Sand" in Borges gleichnamiger Geschichte hat keinen Anfang und kein Ende, keine Seite kann mehr als einmal gelesen werden, ein "universal set", die Freiheit und die Ketten unserer Entscheidungen, Kairos, Gegenwart als kondensierte Moeglichkeiten, nichts als Schmetterlingssammeln. In der Geschichte kann der Protagonist diese Usicherheiten letztendlich nicht mehr ertragen und versteckt das Buch in einer Bibliothek, wo es in der fast Unendlichkeit aller Worte verloren geht.
Borges Leben hatte natuerlich einen Anfang und ein Ende, und kurz vor seinem Tod, blind und doch einer der groessten Seher in der suedamerikanischen Litheratur (neben Saramago vielleicht) kommt dieser grosse, ernste, staunende Mann zu folgender Erkenntniss:
"Wenn ich mein Leben noch einmal leben könnte, im nächsten Leben, würde ich versuchen, mehr Fehler zu machen. Ich würde nicht so perfekt sein wollen, ich würde mich mehr entspannen. Ich wäre ein bisschen verrückter, als ich es gewesen bin. Ich würde viel weniger Dinge so ernst nehmen. Ich wüde mehr riskieren, wüde mehr reisen, Sonnenuntergäge betrachten, mehr bergsteigen, mehr in Flüssen schwimmen ... Wenn ich noch einmal leben könnte, würde ich von Frühlingsbeginn an bis in den Spätherbst hinein barfuss gehen. "
Ich schaue an mir herunter, die Schuhe stehen vor der Tuer. Heureka, Borges i yo.

Trotz dem glorreichen Verlust meiner Schuhe naehrt sich auch meine Reise ihrem Ende.
Ich habe "Travels with Charly" von Steinbeck nie bis zur letzten Seite lesen koennen, ich weiss dass der Autor heimkehrt, nie wieder aufbricht und bald stirbt, doch in meinem Kopf sind es immer noch ein paar Seiten, die Reise wurde nie bis zum Ende erzaehlt, und genauso soll nun auch dieser Blog enden.
Ich bin in Indien, ich verlasse den Raum, trete auf die ueberfuellte Strasse, lasse meine Schuhe stehen und jetzt gerade ...

Donnerstag, 26. März 2009

Kurzgeschichten 2

Vieles hat sich veraendert, der Alltag wirft schon seinen Schatten voraus und auf mich warten Bewerbungen, Rechnungen, Dr. Arbeit … und trotzdem, gerade deswegen, noch einmal ein paar Geschichten aus einer schwereloseren Zeit.

Die U-Bahn ist voll, nicht voll in dem Sinne, dass kein Sitzplatz mehr vorhanden ist und die ersten Fahrgaeste im Gang stehen, nicht voll in dem Sinne, dass alle Sitzplaetze besetzt sind und der Gang dazwischen mit Leuten gefuellt ist, nicht voll in dem Sinne, dass man kaum noch einsteigen kann, nein, so voll, dass es unmoeglich ist, dass alle Fahrgaeste gleichzeitig einatmen, weil sonst der Zug auseinanderplatzen wuerde.
Ich habe einen Ellenbogen an meiner Schlaefe, meine Nase fast in der Achselhoehle eines anderen Arms, auf jedem Fuss stehen zwei weitere Fuesse, meine linke Hand hat sich einen Weg durch einen Dschungel von Leibern gebahnt bis zu einem sicheren Griff um eine der Haltestangen, denn bei jedem Bremsmanoever drueckt eine undefinierbare Masse an Baeuchen, Beinen, Armen, Koepfen gegen mich und bei jedem Stopp, wenn sich die Tueren oeffnen drohe ich einfach aus der Bahn hinauszuquellen.
Irgendwann bohrt sich eine unangenehmes, relative spitzes Etwas in meine Seite, ich schaue so gut es geht an mir herunter, erhasche einen Blick auf die Gegend um mein linkes Nierenlager und auf den Lauf einer Maschinenpistole, die genau darauf ziehlt.
Das andere Ende der Waffe haengt ueber der Schulter eines Soldaten, der mit seinen zwei Kamaraden wohl gerade auf Feierabendfahrt ist, alle drei ihre Waffen mit in der ueberfuellten U-Bahn, die Laeufe in die Menge gerichtet.
Ich gebe den sicheren Griff um die Haltestange auf, tippe ihm vorsichtig, ja nicht bedrohlich wirkend, auf die Schulter und als ich seine Aufmerksamkeit habe auf den Lauf seiner Waffe, die sich weiter in meine Seite bohrt.
Er laechelt freundlich “Oh, no, safe, safe” dann greift er in seine Tasche und zeigt mir das Magazin, dass er vorsorglich vor dem Einsteigen herausgenommen hat. Ich scheine nicht besonders beruhigt zu wirken, denn mit einer umstaendlichen Bewegung rueckt er sich gerade und die Maschinenpistole ziehlt jetzt nur noch auf meine Kniekehle.
“Which Country, you?”
“Germany”
“Oh, great country, you like India?”
“Yes, India is great”
Er laechelt noch breiter und obwohl meine letzte Aussage vollkommen der Wahrheit entspricht, haette ich mich wahrscheinlich auch nicht getraut irgend etwas anderes zu behaupten.

Ich bin in zu einem Empfang in den altehrwuerdigen Calcutta Rowing Club eingeladen.
Am Ufer der Rabindra Sarobar, in und um das Bootshaus im Kolonialstil stehen weiss gedeckte Tische, kleine Grueppchen stehen in der milden Abendbrise in ihr jeweiliges Gespraech vertieft, von der Moschee auf der Insel im See ruft der Muezin und es gibt indisches Fingerfood, Cold Drinks, und indischen Wiskey mit viel Eis.
Ich stehe bei einer Gruppe von Aerzten aus dem Cancer Center und das Thema des Abends ist Kindererziehung. Ein aelterer, distinguierter Herr fragt ausgerechnet mich, ob er seinem Enkel ein Schlagzeugset kaufen soll, obwohl dieser die vereibarten Grades in seinem Zeugnis knapp verfehlt hat.
Durch das Eis meines Wiskeyglases sehe ich das Schlagzeug vor mir, dahinter eine fantastische musikalische Karriere. “Yes of course, you should”

An einem meiner ersten, noch arbeitsfreien Tage, in der Stadt fluechte ich fuer ein paar ruhige Minuten in den Park und dort ezaehlt mir ein Schuljunge, als Ausgleich, dass er ein paar Minuten Musik von meinem I-Pod hoeren kann die Geschichte von Kali, der Goettin, deren wichtigster Schrein hier in der Stadt steht.
Kali wurde einst von Durga erschaffen (einige Geschichten sprechen auch davon, dass Kali eine Reinkarnation von Durga ist, beides wahrscheinlich kein Widerspruch) um die Erde von den Daemonen zu befreien. Also kam Kali, die kaempfende Goettin auf die Erde und nach aeonenlangen, blutigen Schlachten hatte sie alle Daemonen getoetet und ihre abgeschlagenen Koepfe in ihrer Halskette gesammelt. Was nicht abzusehen war, war das Kali nicht in der Lage war die Daemonen von den Menschen zu unterscheiden und so begann sie, nachdem alle Daemonen verschwunden waren, Jagd auf die Menschen zu machen. Erst als Shiva, geweckt vom Wehklagen der leidenden Menschheit einschritt, wurde Kali ihre Schlachtenblindheit bewusst, und sie warf sich in den Dreck vor Shiva und als Zeichen der Schahm trat ihre Zunge hervor, unfaehig ein Wort zu sprechen.
Und genauso wird Kali hier von den Indern verehrt, als die sich ewig schaehmende Goettin, mit entbloester, stummer Zunge und der Halskette aus Schaedeln als Zeichen ihres Versagens.

Ich habe den Momos Stand wieder gefunden, er ist genau gegenueber der Metrostation Rabindra Sadan, an der Ecke Bose Rd zu Chowingree Rd.

Ich war im Kino, in “the strange story of Benjamin Button” und auf dem Heimweg, nachts durch die Gassen dieser fremden, vertrauten Stadt kommt mir ein Zitat in den Sinn und ich weiss beim besten Willen nicht mehr woher es stammt.
“All das Bemuehen, all die Streitereien und enttaeuschten Erwartungen, die Kritiker und Kritiken, das ganze Theater nur, damit wir irgendwann, von Zeit zu Zeit, hingerissen das Leben spielen, nicht an Beifall denkend.”

Montag, 16. März 2009

"El jardín de senderos que se bifurcan"

... noch ein schoener Gedanke.
"Die Zeit ist eine Scheibe. Unser Leben nur eine Reihe von Entropiekonfigurationen, denen unser Verstand eine Richtung gibt. Ausserhalb unseres Kopfes ist alles gleichzeitig. Unsere vermessene, verrinnende Zeit ist nur eine Markoff Chain unter vielen." ;)
so, jetzt ist aber Schluss! ...

Sonntag, 15. März 2009

Jackson Brown vs. Rabindranath Tagore

... jetzt kommt mal ein kleiner "show off" Beitrag ... "hope you don't mind the pretender"...
Ich habe eine alte Bibliothek entdeckt, und was fuer eine, nichts mit Hanni und Nanni und den Gesammelten Werken Grishams und nachdem ich die letzten Wochen erschreckend wenig gelesen habe, verschlinge ich nun geradezu alles was mir in die Finger kommt. Mit einer Buergschaft von unserem Klinikdirektor habe ich sogar eine begrenzte Mitgliedschaft bekommen und jetzt stapeln sich die Buecher in meinem kleinen, rosa Zimmer. Ein 2000 Seiten Waelzer ueber die Entwicklung der Poesie in Indien von Urzeiten bis in die koloniale Vergangenheit, daneben Oppenheimers "War and the Nations", "Gitanjali" von Tagore sowie ein Buch ueber sein Verhaeltnis zu seinen europaeischen Kollegen, "The Mathematical Theory of Communication" von Shannon und Weaver, ein paar gebundene Essays von Einstein zu "Religion and Science" und von Carl Sagan ueber wissenschaftliche Methodik ...
Also jetzt, nach vielen Zeilen ueber raeumliches Reisen nun ein paar Zeilen, gebeugt ueber einen kleinen Tisch, oder ausgestreckt auf meinem Bett.

Aus dem dicksten Buch nur ein kurzes Gedicht aus Kashmir im 16. Jh.
"The soul as the Moon is new,
and everyday new again,
and I've seen the ocean
constantly creating"
Vielleicht ist es eine Frage des Kontext und Interpretation meinerseits, aber die einfache Klarheit der Wortwahl, der Bruch der Perspektive nach den ersten zwei Zeilen und die trotzdem komplette Abgeschlossenheit und Schluessigkeit des kurzen Verses zeigen eine aesthetische Virtuositaet wie man sie auch in japanischen Haikus oder den kurzen Gedichten der europaeischen Nachkriegsagonie wiederfindet.
Man erfuehlt praktisch eine, sicherlich nicht real existente, Verbindung zwischen diesem Gedicht, Matsuo Bashu ("Stillness, the cicada's cry, sinks into the rock") und dem spaeten Paul Celan ("Abgeschlagen bei den Himmelskaefern im Berg, den Tod den du mir schuldig bliebst, ich trag ihn aus")
Vielleicht fantasiere ich aber auch nur ... "frog jumps from the pond, the sound of water: Klerplonk"

Oppenheimers "War and the Nation" ist dafuer erschreckend real, obskurer Weise aber nicht weniger lyrisch. Oppenheimer, der bei der Detonation der ersten Atombombe, halb geblendet vom eigenen Erfolg, halb geschockt von den sich aufzeigenden Konsequenzen" die orginalen Sanskritverse des Bhagavad-Gita zitierte ("I am become Death, the destroyer of worls") zeigt sich hier (1962) fast verwundert dass die Menschheit nun schon 16 Jahre lang der eigenen nuklearen Vernichtung entgegenstrebt und trotzdem bis jetzt ueberlebt hat.
Am Ende eines Abschnitts der endlos um die Verantwortung der Wissenschaft kreist, erlaubt er sich einen fast naiven Traum von einer Welt "... which is varied and cherishes variety, wich is free and cheriches freedom and which is freely changing to adapt to the inevitable needs of change in the twentieth century and all centuries to come, but a world which, with all its variety, freedom and change, is without nation states armed for war and above all, a world without war."
Eines meiner Lieblingsbilder von Henrie-Cartier Bresson zeigt einen gealterten Oppenheimer, gebeugt hinter seinem Schreibtisch der ihn fast bedrohlich an die Wand zu druecken scheint, die Augen wach und traurig und in eine unfassbare Ferne gerichtet und die Stirn mit Sorgen durchzogen.

Aus "Gitanjali" werde ich sicherlich noch oft zitieren ......... da komme ich dann auch zu Jackson Brown.

Mit"The Mathematical Theory of Communication" von 1949 revolutionierte Claude Shannon das grundlegende, mathematische Verstaendnis informationsverarbeitender Systeme.
Ausgehend von den vorherrschenden Modellen, die "Information" als den Logarithmus der Nummer von moeglichen Entscheidungen ueber eine gewisse Zeit definieren, naehrte er sich, mit dem Verstaendnis von Informationssequenzen als "Markoff chain" der klassischen Boltzmann Formel zur Beschreibung der Entropie an.
Kurzgesagt sind die Einzelteile einer Informationssequenz, z.B. die Woerter eines Satzes, in gewissem Grade voneinander abhaengig. Es ist z.B. sehr wahrscheinlich dass auf die Sequenz "in the event" ein "that" folgt, nicht ein "elephant". So ist es moeglich in allen Systemen der Informationstransduktion relative Freiheiten und Redundanzen zu identifizieren, die von der Struktur und Moeglichkeiten des Systems und dessen Kontext abhaengen. Die Mathematik hat also bewiesen dass der Inhalt einer Information von der verwendeten Sprache und dem Kontext der Rezeption abhaengig ist ...
Dies veranlasste Shannon zu seinem Modell, dass nicht nur Information wertet, sondern die "Wertigkeit" einer Information, gemessen an dem Masse wie sie die Unsicherheit ueber den Zustand eines beliebigen Systems verringert, dem "surprise value".
So ist, in unserem Kontext, die Information "Es regnet in der Sahara" hoeherwertig als die Information "Es regnet in London", da letztere nur den wahrscheinlichsten Zustand eines Systems bestaetigt, das uns zudem noch relativ vertraut ist. (sorry London)
Ich bin kein Mathematiker und kann vielleicht mit den Namen von beruehmten Formeln um mich werfen, vielleicht ihre Prinzipien verstehen, aber sicher nicht damit rechnen. Ich habe mich die letzten Jahre aber intensiv mit Signaltransduktionsmechanismen auf zellulaerer Ebene beschaeftigt und ich finde es immer wieder faszinierend, wie verschiedene Disziplinen um ein einziges Problem kreisen und dann aus vollkommen verschiedenen Richtungen zu kongruenten Ergebnissen kommen.

Kommen wir zu Einstein. In den Essays zu "Religion and Science" vertritt Einstein die These einer "evolutionaeren Entwicklung von Religiositaet", ausgehend von den Beduerfnissen von primitiven Kulturen nach einem "sence of control" durch eine "Religion of fear"; ueber die Beduerfnisse einer sozial weit entwickelten Kultur nach einer generationsuebergreifenden moralischer Instanz und nach Trost durch einen "God of Providence"; bis hin zu einem modernen universellen Pantheismus der Spiritualitaet durch das Erfahren eines Kosmos zieht, der zugleich endlose Fragen aufwirft, uns aber gleichzeitig mit tiefem Verstaendnis und der Erkenntnis belohnt, dass wir ein Teil davon sind.
Und auch wenn der evolutionaere Ansatz dieser These spaetestens seit Levi-Strauss nicht mehr haltbar scheint, ist es verfuehrerisch dieser Kausalkette zu folgen.

Einen aehnlichen Ansatz verfolgt auch Carl Sagan, der sich ausgehend von allgemeinen Ueberlegungen zu wissenschaftlicher Methodik fast zu einem Glaubensbekenntnis des Agnostizismus steigert, das man folgendermassen beschreiben koennte:
"Question everything. If you respect something or consider it to be the trouth, then question it even more, because if you again, you find it true and beautiful, then it will only grow by you, questioning it, and you will grow by questioning it too. Else, give birth to a new idea and question that one again.
Learn everything you could, meet different people with different opinions and points of view, go to different placec, then learn even more, and start questioning all over again."
Sagan schliesst mit dem Gedanken:
"Science is not only compatible with spirituality, it is a profound source of spirituality. When we recognize our place in an immensity of light years and in the passage of ages, when we grasp the intricacy, beauty and subtlety of life, then that soaring feeling, that sense of elation and humility combined is surely spiritual. So are our emotions in the precense of great art or music or litrature, or of acts of exemplary selfless courage such as those of Mahatma Gandhi or Martin Luther King."

... so genug damit, ich muss wieder an die frische Luft.

Donnerstag, 12. März 2009

Kurzgeschichten

12.3.09, Kolkata, 17.00

Leia ist ein wenig uebermuetig geworden und nachdem die ersten paar Tage hoechstens ein leises Rascheln, ein Huschen und manchmal ein Schatten hinter der Lampe von ihrer Existenz gekuendigt hat sitzt sie nun auf meinem Schreibtisch. Ihr Bruder haengt noch ein wenig misstrauisch an der Wand ueber der Tuer, dunkelgruen auf strahlendem Rosa.
Ich habe zwei Mitbewohner, die sich wohl so langsam an den ungewoehnlichen Menschen gewoehnen und als ich mich wieder meinem Projekt zuwende, sind vier Geckoaugen aufmerksam auf mich gerichtet ... es ist Zeit fuer einige unsortierte Geschichten aus der Stadt in die es mich versclagen hat.
"Oh Calcutta, in this hall of thine, may I have a corner seat..."

Mein Tag hat schon früh begonnen. Von akuter Schlaflosigkeit gepackt spaziere ich schon um 6.00 morgens durch den Frühnebel-verhangenen, noch taufrischen "Rabindra Sarobar", einen kleiner Park um einen See im Süden Kolkatas.
Zuerst ist es nur ein weiteres Flüstern in der erwachenden Stadt, kaum bemerkenswert, dann aber, je näher ich dem Ufer komme, wird es lauter, selbstsicherer, gegenwärtiger. Ein Kichern, bauchiges Lachen, klangvolles Schmunzeln.
Am Ufer des Sees, unter den alten, gekrümmten Bäumen stehen überall Menschen, einige alleine, viele in kleinen Gruppen und strecken und dehnen sich und ... Lachen aus tiefster Kehle. Ich stehe ein bischen abseits und mustere neugierig dieses uralte Ritual, diesen neumodischen Trend oder doch eher ein waghalsiger Exorzismus des kriselnden Zeitgeists?
Irgendwann winkt mich einer der Lachenden heran und macht eine Geste, dass ich mitlachen soll und ich, erst ein wenig schüchtern mit meinem befangenen Zivilisationslächeln, brauche ein paar Versuche, aber irgendwann lache ich aus vollem Hals mit; ein tiefes, dunkles, befreites Lachen, das sein 100 faches Echo in einem gewöhnlichen indischen Morgen findet. Wer auch immer gesagt hat "you can´t just bottle some laughter for the rest of your days" (war es Donovan?), hatte eindeutig unrecht. (Qed)

Es ist später Nachmittag, gestern bin ich hier angekommen und heute streune ich zum ersten mal durch die breiten, überfüllten Straßen Kolkatas.
Die Stadt ist widersprüchlicher als alle Städte die ich bis jetzt erlebt habe, die Gerüche noch intensiver, es ist lauter und hecktischer und zur gleichen Zeit in sich ruhend und still. Die Menschen sind freundlich und stolz und vor den alten, verfallenden Kolonialbauten reiht sich ein Marktstand an den nächsten.
Die einzige Schwierigkeit besteht darin sich nicht zu verlaufen, die Stadtverwaltung ändert nämlich mit boshafter Regelmäßigkeit die Straßennamen, sodaß weder Stadtpläne, noch Straßenschilder, noch Adressen mit der Aktualisierung vorankommen. So gibt es z.B. drei verschiedene "Mahatma Gandhi Roads" dicht beieinander, die alle noch drei Alternativnamen haben, welche natürlich alle noch in Gebrauch sind. Die "Park Street" heißt im Moment offiziell "Mother Theresa Sarani", leider hält sich niemand daran und das amerikanische Konsulat liegt seit kurzem in der "Ho Chi Min Sarani".
Mitten in dieser ersten Orientierungslosigkeit esse ich die besten Momos von Kalkutta an einem der vielen Straßenstände, die leider alle nicht zu unterscheiden sind. Ich werde die nächsten Tage Stunden damit verbringen diesen Stand wiederzufinden, esse jeden Tag mindestens einmal Momos, die sicherlich gut aber nicht sooo gut sind, doch er bleibt nur eine Erinnerung.

Ich habe die Linien Rickschas entdeckt. Das sind Rickschas die eine bestimmte Strecke auf und abfahren und auf die man, mit etwas Übung, einfach aufspringen kann. Eine Strecke kostet 4Rs, also fast nichts und ich brauche 2 Strecken vom Krankenhaustor bis ins Stadtzentrum, das plötzlich ganz nahe ist...
Und ja, 8 Personen passen ohne Probleme in eine Rickscha, erst ab 10 wird's ungemütlich.

Ich spaziere durch den Maidan, den Centralpark Kolkatas. 1758, um dem neugebauten "Fort William" eine freie Schusslinie zu sichern, wurde ein 3km langer Streifen im Zentrum der Stadt von den englischen Kolonialmächten, dem Erdboden gleich gemacht und zum Park umfunktioniert.
Heute ist "the Maidan" die grüne Lunge der Stadt und gleichzeitig Rückzugsort für alle die dem alltäglichen Chaos für ein paar ruhige Momente entfliehen wollen.
Um für Ordnung zu sorgen, hat die Stadtverwaltung große Parzellen zur Patenschaft ausgeschrieben und große Firmen kümmern sich nun um die Erhaltung einzelner Bereiche des Parks. Daß dabei ein Wettkampf zwischen den einzelnen Firmen um den schönsten Parkabschnitt ausgebrochen ist, führt zu teils schönen, teils kuriosen Gartenanlagen. So gibt es im "Tata Steel Park" akkurat geschnittenen Rasen, mit Mamor ausgelegte Gehwege und den quasi-orginalgetreuen Nachbau des Trevibrunnens, der Nachbarpark punktet mit einer ganzen Schule "Maidan Delfinen" aus Plastik, die aus dem Rasen auftauchen und zu klssischer Musik ihre Kreise ziehen, wieder einen Park weiter gibt es romantische Wasserspiele, die abends in allen Farben zwischen Pink und Neon erstrahlen.

Es ist früher Abend und auf der kleinen Terasse meines Bereitschaftszimmers höre ich Musik auf dem I-Pod. Neben mir das vertraute Rauschen und Piepsen der Station und Jens Lekman singt: "If a psycologists psycologist ever needs a psycologist, who would want to be a psycologists psycologists psycologist"
...großartig.

Ich habe einen kurzen Anflug von Heimweh, den ich im Pizza Hut kurriere. Verglichen mit den ca. 12Rs die mich normalerweise ein Essen auf der Straße in Kolkata kostet (z.B. Momos) sind die 300Rs (ca 5€) für ein Pizza Hut Menue mit Pizza, Softdrink und Dessert der reinste Luxus. Dementsprechend sieht das Restaurant auch aus, Holzvertäfelung, eine Klimaanlage auf Anschlag, für jeden Gast ein Kellner der einem zu Platz geleitet und den Stuhl zurechtrückt, Porzellangeschirr und weiße Stoffservieten und darauf eine ordinäre Pizza Hut Pizza.
Am Tisch neben mir feiert ein junges Mädchen Kindergeburtstag, sie hat eine kleine Krone auf, vor ihr stapeln sich die Geschenke und am Tisch sitzen neben ihren Eltern noch 10 wild durcheinander quatschende Freundinnen. Als ich das Restaurant verlasse sortiert ein Mädchen im gleichen Alter, das Gesicht mit Schweiss und Dreck verkrustet den Müll auf der Straße.

Ich besuche die University of Kolkata, das Medical College und die College Street. College Street ist berühmt für die vielen Bookshops, die die Straße auf mehreren Kilometern säumen.
Dabei handelt es sich aber nicht um Geschäfte im eigentlichen Sinn, mit Regalen und erkennbarer Ordnung, vielmehr gibt es hier im besten Fall Marktstände, ansonsten werden die Bücher, Deckel an Deckel, auf der Straße gestapelt; davor im Schneidersitz der Buchverkäufer, der verspricht einem jedes Buch, das man will innerhalb von 10min besorgen zu können. Ich erkenne in einem Stapel die neuste Ausgabe des "Harrison - Internal Medicine", direckt darüber ein dickes Buch über Quantenmechanik und darüber Bücher zu angwewandter Systemtheorie bis Politik und Bankenwesen. Eine beeindruckende Sammlung an Wissen der ganzen Welt, auf Englisch, Arabisch, Hindi, das hier wie Gemüse auf der Straße verkauft wird und genauso hungrig macht, steigt einem der Duft so konzentriert in die Nase.

Ich stehe im OP und habe zwei wichtige Erkenntnisse:
1. Eine TAR geht wunderbar auch ohne Stapler
2. Die Tatsache, daß ich ca. 20 neue Moskitostiche habe und mich nicht kratzen darf weil ich steril bin, stellt meine Selbstbeherrschung auf eine harte Probe... 5 lange Stunden.

Ich bin mit Dr. Agrawalla und seiner Familie zum Auftakt des Holi Fests zu einer alten Hindu Zeremonie eingeladen. Der Legende nach wurde vor Urzeiten einem Dämon prophezeit, daß eine einfache Frau ein Kind zur Welt bringen wird, das ihn, als erwachsener Mann, vernichten wird.
Also machte sich der Dämon auf die Suche nach der Frau, gewinnt ihr Vertrauen und raubt schließlich das neugeborene Kind. Als er es jedoch auf einem Scheiterhaufen verbrennen will, schreiten die Götter ein und retten das Kind aus den lodernden Flammen und bringen es ins Dorf zu seiner Mutter zurück, worauf diese aus Freude das erste Holi feiert.
Dies wird nun kurz vor Mitternacht auf einem sternenbewachten Feld nachgespielt. Auf dem Scheiterhaufen liegt eine Tonpuppe und ein Priester mit Dämonenmaske entzündet das Feuer. In diesem Moment müssen mutige Zuschauer auf den Scheiterhaufen klettern und das "Kind" retten, eine gefährliche Mutprobe. Doch heute explodiert das Feuer geradezu, das trockene Holz geht in einem Funkensturm auf bevor auch nur ein Versuch möglich ist das "Kind" zu retten und es verbrennt innerhalb von Sekunden. Erst als die Flammen keine Nahrung mehr finden holt der Priester die rußschwarze Tonpuppe mit einem langen Stock aus der Asche. "This happens, some years the demon wins"
Das eigentliche Holi am nächsten Tag ist wesentlich farbenfroher. Bewaffnet mit Farbe zieht man von Haus zu Haus und malt jeden an, der einem begegnet. Diese Geste soll jedem die Gelegenheit geben sich für alle Gemeinheiten des letzten Jahres rächen zu können, gleichzeitig aber Vergebung anzubieten
Und während ich mich langsam pink einfärbe, lachend, nichts ahnend, erschießt zuhause im fernen Deutschland ein 17 jähriger Junge 19 Menschen.

Ich stromere durch die Gassen im Süden, es ist schon fast Mitternacht und schon lange dunkel, doch das Leben pulsiert hier immer noch, jetzt da es angenehm kühl ist, vor den Häusern. Frauen stehen in kleinen Grüppchen zusammen und lachen leise in die Nacht, Kinder spielen Fußball mit einer alten Wasserflasche oder fangen oder Verstecken, die geduckte Gestalt eines kleinen Jungen schält sich aus der Dunkelheit hinter einem Kleinen Shiva Schrein. Ein paar Männer spielen ein Brettspiel, das nach Dame aussieht aber anders gespielt wird, mit im Schwung geworfenen Spielsteinen, und rauchen. Die Luft ist schwer und würzig, die Straßen oft nur erhellt von den Kerzen der Händler, die am Straßenrand ihre Ware anbieten, manchmal das Flackern einer Öllampe hinter einem Fenster, sonst nur das fahle Mondlicht. Ich kaufe mir eine Kathiroll, eine Art gefüllter Pfannkuchen auf dem ein Ei aufgeschlagen und angebraten wird und danach einen Chai und eine einzelne Zigarette. Als Anzünder dient ein in Öl getränktes Seil, das an einem Ast hängt und langsam vor sich hinschmort. Der Verkäufer betrachtet mich, halbblind und mit zugekniffenen Augen interessiert über den Rand seiner riesigen Brille. Einer der Bügel ist abgebrochen, dafür hält jetzt ein Gummiband die Brille auf seinem Kopf, sein Hemd war sicherlich irgendwann einmal weiß und seine Finger sind spindeldürr und krumm. Als ich mich freundlich verabschiede, lächelt er mich mit seinen verbliebenen drei Zähnen an und winkt mir hinterher.
Ein paar Gassen weiter hält mich ein Junge auf, ich kenne ihn, er hat in meinem Hostel gearbeitet und auch er erkennt mich wieder. Er hat gerade "Icecream, Icecream" gekauft und ist auf dem Weg nach Hause. "This is my home. Meet my father, meet my mother, meet my brother"
Die ganze Familie steht lächelnd vor der einfachen Hütte, die ,mit dem einem kleinen Raum, dem Kohleofen und den fünf Betten, doch so sehr nach glücklichem Zuhause aussieht.
Ich werde prompt zum "Icecream, Icecream" essen eingeladen, doch ich mache eine Geste daß mein Bauch voll ist, bedanke mich mehrmals und lehne ab. Ich weiß, daß die "Icecream, Icecream" wahrscheinlich mehr gekostet hat, als die Familie am Tag verdient. Diese Großzügigkeit gegenüber einem Fremden ist hier nicht ungewöhnlich, trotzdem bin ich jedesmal wieder tief berührt.

Ich habe den wahrscheinlich einzigen Irish Pub in Indien gefunden. Zum Bier gibt es mit Zimt und Kardamon gewürztes Knabberzeug und die Band spielt gerade ein holpriges "nothing else matters". Der Bassist trägt einen Turban.

...to be continued

Montag, 2. März 2009

... LANGEWEILE

Noch eine Stunde, dann kann ich den letzten Programmpunkt fuer heute abhaken...Abendessen.
Heute war mein erster Arbeitstag im Cancer Center, aber seit Dienstschluss um 16.00 zieht sich die Zeit hier wie Kaugummie. Ich habe alles was ich zum Lesen gefunden oder bei mir habe gelesen...zweimal, Fernsehen gibt es nicht und die Stadt ist gerade so weit weg, dass ich sie nicht einfach so erreichen kann.
Alle Aerzte mit denen ich den Tag ueber zu tun hatte sind zu hause bei ihren Familien, hier geblieben sind nur noch die Patienten, einige Schwestern, der Hausmeister und das Securityteam...und keiner spricht Englisch, nur einige Hindi, dafuer alle fliessend Bengali...ausser mir.
Gerade hatte ich Besuch vom Koch der Kantine und dem Kuechenjungen, mit denen ich mich gestern ein wenig angefreundet habe. Das Ritual ist das gleiche wie gestern, schuechternes Klopfen, drei oder vier Brocken Englisch, 'Hello, sir'...'picture, Tiger?'...sie schauen sich die Bilder von dem Tieger in Rantanbore an, vom Taj Mahal, einige alte Photos von Heidelberg und Paris die noch auf meinem Photo gespeichert sind, wir hoeren 'America Music' und dann versuchen sie mir Bengali beizubringen. Sie deuten auf meine Nasen...'Nack', die Augen...'Tschock', die Ohren...'Kahn'...u.s.w.
Im Austausch lernen sie Nose, Eyes, Ears...u.s.w.
Ich habe auch einen handgeschriebenen Zettel mit dem bengalischen Alphabet bekommen, das sich nicht damit begnuegt z.B. fuer die Silbe 'do' je nach Aussprache 8 verschiedene Buchstaben vorzuschreiben, nein, kombiniert man 2 Silben werden nicht beide Buchstaben einfach nur hintereinander geschrieben, sondern je nachdem ob Konsonant auf Vokal oder Konsonant auf Konsonant oder Vokal auf Konsonant oder Vokal auf Vokal folgt, verschmelzen beide Zeichen in einer bestimmten Weise, die meistens nichts mehr mit den Ausgangsbuchstaben gemeinsam hat. Ich brauche zur Zeit Minuten um ein einzelnes Wort Bengali zu lesen, an Schreiben ist nicht zu denken.

...noch 40min

Fuer alle HNO Insider noch ein paar blutige Einblicke in den begalischen OP. Ich war heute bei einer Mikro. Flex. Panendo zum Staging eines monstoesen Zungengrundkarzinoms dabei, dass fast den ganzen Oropharynx verlegt hat. Abgesehen, dass die Panendo durch die Nase durchgefuehrt wurde gab es weder was Know How noch Equipment angeht kaum Unterschiede zu Deutschland.
Im Op geht es ein wenig gemuetlicher zu und es ist fast immer Zeit fuer einen Tee und ein Plaeuschchen. Die Chirurgen machen die selben Anaesthesistenwitze und die Anaesthesisten die selben Chirurgenwitze, sodass ich mich schnell wie zuhause gefuehlt habe.
Die einzige andere OP in meinem Saal war eine ZungenspitzenCa Resektion, mit einseitiger Neck und Extraktion aller verbliebener, karioeser Zaehne im Unterkiefer und abgesehen vom Zugangsweg, einer Art halbseitigem, erweitertem Kocher-Kragenschnitt, gab es kaum Unterschiede zum Vorgehen das ich gewohnt bin. Danach war Feierabend.

Ernuechternd ist alerdings die postoperative Perspektive. Es wird naemlich zwischen einer optimalen Nachbehandlung mit R/C Therapie und regelmaessiger Vorstellung und einer realistischen Nachbehandlung unterschieden. Auch wenn die Klinik hier als 'non-Profit' Organisation fortschrittliche Medizin zu minimalen Preisen anbietet, wird sich kaum einer der Patienten die teuren Medikamente leisten koennen, die bei uns selbstverstaendlich sind. Also wird gleich ein alternativer Therapieplan entwickelt, der sich auf zum Teil uralte Chemotherapeutika stuetzt, wissend, dass man so wesentlich mehr Nebenwirkungen und wesentlich weniger Therapieerfolge in Kauf nehmen muss.
Und ich muss mich fragen, bei allem was unser eigenes Gesundheitssystem zur Zeit mehr schlecht als recht am Laufen haelt, ist das wirklich die dunkle Vergangenheit?

Donnerstag, 26. Februar 2009

in der Kuerze liegt die Wuerze

... hier mal wieder ein kleiner Apetizer auf die Geschichten, die ich noch nicht geschrieben aber mit Sicherheit erlebt habe.

1. wilder Tieger mitten auf der Strasse gesehen ... und Beweisfoto gemacht.
2. vor dem Taj Mahal ueber Schoenheit und Aestetik gegruebelt
3. in Delhi again, Mahatma Gandhi's Grab besucht (u.a.)
4. eine Nacht am Flughafen verbracht, mir den Magen verdorben und einem japanischen Geschaeftsmann auf den Anzug gekotzt ... fast.
5. In Kolkata angekommen, im Fruehnebel mit 100 Indern ausgiebig gelacht, Tagore gelesen und die Europaeische Postmoderne dekonstruiert.
6. Die besten Momos der Welt an einem Strassenstand gegessen, den ich am naechsten Tag Stunden lang gesucht, aber nicht mehr habe finden koennen.

...vielleicht schaff ich es morgen...