Mittwoch, 11. Februar 2009

Delhi

Es ist kalt, rau, es hat lange geregne und es ist stockdunkel. Der Taxifahrer, der versprochen hat uns vom Flughafen zu unserem Hotel zu bringen, biegt gerade von der Hauptstrasse in eine dunkle, unbefestigte Seitenstrasse ein und wir versinken augenblicklich im Matsch.
Man kann wenig erkennen, ein paar verrammelte Laeden, in einer Ecke ein paar geduckte Gestalten um ein klaegliches Feuer, rechts von uns durchwuehlt eine Huendin mit ihren zwei Jungen einen Muellberg, in der Ferne ein wenig Licht.
"You want Spice Otel?" ... unser Hotel heisst Smile Inn, aber das ist fuer unseren Fahrer unmoeglich auszusprechen. Wir haben uns verfahren und ernten nur ratloses Schulterzucken, wenn wir wieder einmal nach Spice Otel fragen. "No, no, SMILE INN, S.M.I.L.E., Smile Inn!"
"Yes, yes, Spice Otel"
Wir sind mitten im Main Bazar in Paharganj, einem Viertel von Delhi, das laut Reisefuehrer "einen zweifelhaften Ruf geniesst und vorallem fuer seine Drogenszene und die vielen zwielichtigen Gestalten bekannt ist."
Letztendlich finden wir unser Ziel in einer der vielen, namenlosen Seitenstrassen und wir muessen das letzte Stueck laufen, da das Taxi weder den engen Gassen noch dem Matsch gewachsen ist in dem wir uns immer wieder festfahren.
Der Mann an der Rezeption schlaeft auf einer Couch in der Ecke, schreckt aber auf als wir das Hotel betreten und fuehrt uns zu unserem Zimmer. Im Treppenhaus muessen wir ueber eine verdaechtige, gruenbraune Pfuetze steigen und es riecht nach Erbrochenem.
Trotzdem ist das Zimmer in Ordnung, es ist sauber, die Betten frisch bezogen und im Bad laeuft warmes Wasser, der einzige Wehrmutstropfen ist ein Loch im Fenster, durch das es empfindlich zieht und das wir mit einer Wolldecke stopfen. Wie haben schon schlimmere Absteigen ueberlebt. Ich verriegle sorgfaeltig die Tuer, stopfe meinen Geldbeutel und mein Taschenmesser unter mein Kopfkissen und kurz bevor ich einschlafe, muss ich darueber nachdenken warum ich jetzt hier und nicht in meinem warmen Bett in Mannheim schlafe.
Ich mag mein konfortables Zuhause, aber ich habe hier wie ein Baby in einem einfachen Feldbett geschlafen, in einer schmucklosen Kammer mit gestampften Lehmboden. Die warme Dusche am Morgen ist fantastisch, aber kaltes Wasser auf dem Hof reicht manchmal vollkommen aus um sich wie ein neuer Mensch zu fuehlen. Wir hatten Toiletten, die nichts mehr als ein Loch im Boden hinter einer huefthohen Mauer waren und das ist Ok. Wir haben in einer dreckigen Stadt, in einem fenstelosem Zimmer mit gelbfleckiger Bettwaesche geschlafen, Kakerlaken im Bad, im Zimmer, einmal sogar auf dem Teller, dort allerdings bereits verstorben. Wir haben uns mit Massen von fremden Menschen in Busse, Zuege, Strassen und Gassen gequetscht und sind ueberall gut angekommen. Ich habe aufgehoert zur Seite zu springen wenn mitten in der Stadt eine Horde Kuehe/Ziegen/Hunde/Affen an mir vorueberstuermt, denn ich weiss sie haben ihre eigenen Ziele und ich bin nichts weiter als einer dieser vielen Zweibeiner im Weg, nichts Besonderes.
Es ist als ob Indien, dieser Kontinent fuer mich fremder, fremdhaft-vertrauter Welten und absolut unverstaendlicher Welten mich zwingt meine althergebrachten Massstaebe zu destillieren. Vieles was mir wichtig ist, auf das ich stolz bin oder mir etwas einbilde, all diese vertrauten Kulturen, Kultiviertheiten, die Spielchen und komlexen Spielregeln all diese Ueberlegenheiteleien muessen hier neu bewertet werden.
Kaum jemand hier hat die Buecher gelesen die ich gelesen habe, die Erfahrungen gemacht die ich gemacht habe oder die Schluesse gezogen die ich gezogen habe. Meine Plattensammlung, dieses tolle Zitat von Tolstoi oder die 64 Espressotassen und Perserteppiche im Haus meiner Eltern, in der Welt des Samosa-Verkaeufers an der Ecke spielt das alles nicht die geringste Rolle und ich bin sicher, trotz allem was ich weiss oder kann, in seiner Welt in seinem Leben waere ich aufgeschmissen. Was davon ist wirklich wichtig, was ist reine Kuer und was nur Ablenkung?
Im besten Fall macht Indien bescheiden und demuetig. Ich muss an ein Zitat von Cees Nooteboom denken, "ich hatte 1000 Leben und nahm doch nur eins."
Es gibt keinen einzigen Grund zur Ueberheblichkeit, fuer niemanden. All die Welten die wir uns im Laufe unseres einen Lebens erschlossen oder erschaffen haben, heimisch oder heilig gemacht, die uns Zuhause oder nur zeitweise eine Zuflucht sind, so gross ihre Zahl oder so komplex ihre Architektur auch ist, sie koennen doch nie die 1000 Leben aufwiegen, die uns verborgen bleiben, die 10000 Welten die uns nicht Zuhause sind, in denen wir uns schwerfaellig und tollpatschig bewegen, von denen wir rein gar nichts wissen und in denen wir keine Rolle spielen.
Wir sind nur so wenig, nur ein kurzer Blick, ein Aufflackern und so vieles bleibt im Dunkeln.
Wirklich kein Grund zur Ueberheblichkeit.

2 Kommentare:

  1. Hallo Carsten,
    für uns "Daheimgebliebenen" ist Indien eine Vielfalt von Fragmenten; Du nimmst die Gelegenheit wahr, das Land bzw. den Subcontinent,in den wir Europäer dazu neigen unsere Fantasien und Träume anzusiedeln, in all seinen wundervollen Farben an der Oberfläche glitzern zu sehen bei unergründlicher Tiefe !
    Deine literarische Bilderreise, Synthese zwischen Dynamik und Gelassenheit, Sorge und Leichtigkeit, lässt uns ein wenig teilhaben an der Vielfalt des indischen Kulturraumes -- Indien, ein Märchen mit Zukunft -- ein vollendetes Fragment -- ??
    Alles Liebe Ma und Pa , pass Du gut auf Dich auf !
    PS: hier im Süddeutschen Raum sind gerade "die Narren los", eine andere Art der Buntheit.

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  2. Hallo Carsten,
    so wie unsere "Telefonie" seit DSL-Vorschaltung verrückt spielt und trotz unserer Präsenz uns nur noch als zu "permanent not available persons " deklariert, muckt auch unser PC auf und hat doch geradewegs unseren Kommentar über das "Märchenland Indien" genau an die Stelle platziert, wo Du Dich nach Deinem warmen Mannheimer Bett sehnst und offensichtlich so überhaupt nicht die "Indische Farbenpracht" vor Deinem müden Auge hast und die kalte feuchte Zugluft durchs "Fensterloch" Deine Träume vielleicht in Richtung nach Hause lenkt.
    Wir wünschen Dir dennoch einen erholsamen Schlaf, gute Träume und noch viele eindrucksvolle Tage in Indien,
    während wir am Sonntag an dem stillen,etwas melancholischen Walchensee entlangfahren werden, Blick auf die Zentralalpen, vielleicht einen vorzüglichen Kaiserschmarren in einem behaglichen Landgasthof, heisse Schokolade und den Rücken an einem wärmenden Kachelofen; --dann vom Interalpen aus tief und weit in die Bergwelt blicken.
    Nur wer reist kann über sich hinauswachsen.
    In diesem Sinne alles Liebe Ma und Pa .

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